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Zum
Abschneidens der deutschen Kunstturnerinnen
- Eine EM-Analyse von Petra Theiss, OSP
Frankfurt-Rhein-Main -
Zur
Nominierung:
Bevor ich auf die Europameisterschaften selbst eingehe, zunächst einige
Anmerkungen zur Nominierung des Seniorinnen-Teams, welche vielleicht bei einigen
"Insidern" auf Unverständnis gestoßen ist. Auf der Grundlage eines während
der Endvorbereitung in Frankfurt durchgeführten internen Test-Wettkampfs sowie der
gezeigten und dokumentierten Trainingsleistungen haben sich Lisa Brüggemann und
Dagmar Fehrenschild souverän als Vierkämpferinnen für die EM
empfohlen. Birgit Schweigert konnte am Barren und Balken ebenfalls
eindeutig überzeugen, ihre Sprungleistung unterschied sich nur unwesentlich von der Gritt
Hofmanns und am Boden stellte sich der Leistungsunterschied zu Katja
Dreyer infolge der Aufstockung ihres akrobatischen Programms nicht mehr so
deutlich dar wie noch in der Vergangenheit. Allein im Interesse eines guten
Mannschaftsergebnisses bei den Europameisterschafen soll nicht unerwähnt bleiben, dass
Gritt Hofmann und Katja Dreyer durchaus berechtigte Chancen hinsichtlich eines
EM-Einsatzes an den Geräten Sprung und Boden gehabt hätten. Durch die besondere
Situation der Möglichkeit der Olympiaqualifikation bei den Europameisterschaften, sowohl
über den Einzel-Mehrkampf als auch über das Gerätefinale, gab jedoch letztendlich die
Einschätzung der potentiellen "Olympiachance" der Turnerinnen Lisa Brüggemann
(Mehrkampf und Boden), Dagmar Fehrenschild (Mehrkampf und Barren) und Birgit Schweigert
(Mehrkampf und Balken, evtl. Barren) den Ausschlag für die Nominierung von drei
Vierkämpferinnen. Für Birgit Schweigert als Vierkämpferin sprach zudem ihr in der
Vergangenheit wiederholt sicheres Auftreten bei internationalen Wettkämpfen (z.B. LK
Eindhoven 1999, WM Tianjin 1999, Turnier USA 2000), das sie auch in Paris als beste
deutsche Turnerin (Rang 12 im Einzel-Mehrkampf) erneut unter Beweis stellen konnte.
Um so erfreulicher, dass Katja Dreyer und Gritt Hofmann die für sie persönlich
sicherlich "harte" fachliche Entscheidung des EM- und JEM-Trainerteams
akzeptiert haben und die Mannschaft in der verbleibenden Vorbereitungszeit sowie zum
Wettkampf selbst ohne Einschränkungen unterstützt haben. An dieser Stelle nochmals
vielen Dank und ein dickes Lob an Gritt und Katja.
Der
Mannschaftswettbewerb:
Das retrospektiv betrachtete zufriedenstellende Abschneiden im Rahmen des
Mannschaftswettkampfs (Rang 9) ist bereits wiederholt in den Medien betont worden, wobei
nicht unerwähnt bleiben sollte, dass der 8. Platz in greifbarer Nähe war.
Gleichzeitig gilt es jedoch auch zu erkennen, dass selbst bei optimalem Wettkampfverlauf
eine noch bessere Platzierung nicht möglich gewesen wäre, da der Punktabstand zu den
nächstplatzierten Italien und Spanien aktuell mit ca. 3 Punkten noch sehr deutlich
ausgefallen ist. Unter Berücksichtigung des besonderen Wettkampfmodus (ohne Streichnote)
und der Tatsache, dass die drei nominierten Turnerinnen noch im unmittelbaren Vorfeld der
EM mit kleineren, akuten Verletzungen zu tun hatten, die Dank der intensiven medizinischen
und physiotherapeutischen Betreuung sowohl am Heimat-Stützpunkt (u.a. durch Dr.
R. Koll, Physiotherapie Bergisch-Gladbach und Köln) als auch während der
Vorbereitung in Frankfurt (Dr. H. Lohrer, Physiotherapie
OSP-Frankfurt-Rhein-Main) und Paris (Dr. R. Eckhardt, S. Karrasch)
erfolgreich behandelt werden konnten, kann man aus deutscher Sicht mit dem erzielten 9.
Rang zunächst zufrieden sein. Abgesehen von den genannten kleineren Blessuren stellte
sich das gesamte EM-Team (einschließlich Gritt Hofmann und Katja Dreyer) im
Gegensatz zum WM-Team 1999, bereits zu Beginn der EM-Vorbereitung in einer guten bis sehr
guten körperlichen Verfassung vor, d.h. eine adäquate körperliche und psychische
Belastungsverträglichkeit während der knapp bemessenen Endvorbereitung war gegeben und
am Wettkampftag waren die Turnerinnen ohne Einschränkung einsatzfähig.
Die Inhalte:
Deutliche Unterschiede zur europäischen Spitze zeigten sich natürlich im
Schwierigkeitsgrad der Programme, augenscheinlicher jedoch wieder einmal in der Dynamik
des Auftretens (u.a. infolge von Kraftdefiziten), der Qualität der gymnastischen
Ausbildung (insb. mangelnde Fußarbeit und fehlende Ausdrucksstärke) sowie der Übungsstabilität.
Letztere ist auf eine noch mangelnde internationale Wettkampferfahrung und die damit
zwangsläufig verbundenen "Reise-Strapazen", die auch eine bestimmtes Maß an
psychischer Robustheit erfordern, in Zusammenhang zu bringen. Darüber hinaus standen
natürlich alle drei Turnerinnen unter der zusätzlichen Nervenbelastung der
Olympiaqualifikation.
Die Turnerinnen:
Dagmar Fehrenschild konnte ihre
Leistungsfähigkeit noch während der Endvorbereitung in Frankfurt kontinuierlich steigern
und mit einem quasi fehlerfreien Wettkampf im Mannschaftsdurchgang auch ihr starkes
Nervenkostüm unter Beweis stellen. Die im Mehrkampffinale aufgetretenen Fehler (Sturz am
Balken bei der langen Reihe und nicht ganz vollendete Dreifachschraube am Boden) sind
letztendlich die Folge technischer Defizite, die de facto noch bestehen. Um so
erfreulicher, dass Dagmar an ihrer "Achillesferse", dem Pferdsprung, erstmals
den Yurtchenko in gestreckter Haltung realisieren konnte. Der Einzug ins Barrenfinale
wäre in der letzten Startgruppe, mit einem knappen Zehntel-Punkt mehr, ebenfalls denkbar
gewesen, |
"Daggi" Fehrenschild
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wobei die Top-Übungen im
Gerätefinale allerdings mehr und mehr durch direkte Holmwechsel (kein Aufbücken bzw.
Sohlwellumschwung) und exakte End- bzw. Handstandpositionen gekennzeichnet sind. |
"Biggi" Schweigert
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Birgit Schweigert konnte,
wie in Tianjin 1999, ihre Stärke im Mehrkampf erneut unter Beweis stellen. Dass es gerade
am Balken, ihrem Paradegerät, nicht so gut geklappt hat, ist sicherlich nicht auf
bewegungstechnische Mängel, zurückzuführen. Hier haben vielleicht einmal die Nerven,
der ansonsten als nervenstark bekannten Biggi, dem enormen Druck der Olympiakriterien
nicht standhalten können. Hinzu kommt ein Trainingsrückstand infolge einer leichten
Knieverletzung im Vorfeld der EM. Unter diesem Aspekt ist allerdings auch davon
auszugehen, dass Birgit kurz- bzw. mittelfristig, mit dem bereits zur EM-Qualifikation
gezeigten neuen Rondat-Sprung (Omeliantchik), ihren Ausgangswert weiter aufstocken und den
Deutschen Turner-Bund, ebenso wie Dagmar Fehrenschild, würdig bei den Olympischen Spielen
in Sydney vertreten kann.
Von einem wirklichen "Pechvogel" ist im Zusammenhang mit der möglichen
Olympiaqualifikation von Lisa Brüggemann zu sprechen, die ihren
Mannschafts-Mehrkampf am Pferdsprung (9.025) und Stufenbarren (9.437) sehr stark und
souverän begonnen hat. Auch am Balken hatte Lisa einen überzeugenden Start mit Angang
(Rondat-Spreizsalto) und langer Akroreihe (Flick-Flack-Spreizsalto-Flick-Flack). Erst beim
neu in die Übung integrierten Salto vorwärts, der ihr bereits im Vorfeld der EM
technische Schwierigkeiten bereitete, musste sie das Gerät verlassen, was zur Folge
hatte, dass der Rest der Übung (akrobatisch-gymnastische Verbindung und gymnastische
Sprungverbíndung) auch nicht mehr ganz "rund lief" und sie erhebliche
Einschränkungen (0.6 Punkte) im Ausgangswert in Kauf nehmen musste. |
Lisa Brüggemann
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Sie hat sich jedoch hierdurch
noch keineswegs entmutigen lassen und ist guter Dinge und voller Elan an ihre Bodenübung
gegangen, mit der sie - wie sich später auch aus Kampfrichtersicht herausstellen sollte -
berechtigterweise eine Finalchance gehabt hätte. So gut wie selten ist ihr die erste
akrobatische Reihe mit einer Kombination aus Rondat - Flick-Flack 1 1/2 Schraube und 2 1/2
Schraube mit direktem Salto vorwärts gelungen und auch den anschließenden Doppeltwist in
der 2. Akroreihe konnte sie sicher zum Stand bringen. Sie machte schon beinahe einen
befreiten Eindruck, als sie dann leider bei der Landung nach dem Tsukahara die Beine zu
steif gegen die Bodenfläche stellte, was quasi zu einem "Konterstoß" durch die
elastische Unterlage und letztlich zum Sturz bzw. Aufstützen einer Hand am Boden führte.
Insbesondere die fehlende Erfahrung mit der besonderen Beschaffenheit der elastischen
Unterlage ist als Ursache heranzuziehen, was insgesamt wiederum dafür spricht, dass junge
Turnerinnen jede Gelegenheit nutzen sollten, internationale Wettkampf-erfahrung zu
sammeln. Für ihre Bodenübung, die sie mit einem hohen und sicher gelandeten Doppelsalto
gebückt beendete, erhielt Lisa noch eine 9,075. Damit war aber leider nicht nur der Traum
von Olympia, sondern auch ein Start im Einzel-Mehrkampf geplatzt, was sie
verständlicherweise sehr traurig stimmte.
Das deutsche EM- und JEM-Team, Paris
2000 |
Wie gut die
Stimmung im gesamten Team war, zeigte sich unter anderem in den anschließenden
tröstenden Worten der Mannschaftskolleginnen und Betreuer, die Lisa in ihrem Bemühen,
mit dem Misserfolg, der leider auch zum Leistungssport gehört, fertig zu werden, zu
unterstützen versuchten. So fand sie auch sehr schnell die Kraft ihre
Mannschaftskolleginnen an den folgenden Wettkampftagen tatkräftig zu unterstützen und
berechtigterweise(!) wieder nach vorne zu blicken.
Das Fazit:
Dagmar, Birgit und Lisa hinterliessen insgesamt einen guten Eindruck in Paris
sodass sie ihre aktuelle Olympiareife sowie ihr noch vorhandenes Potential, trotz der
unterlaufenen Fehler, nicht verhehlen konnten. Mit Dagmar Fehrenschild, Lisa Brüggemann,
Birgit Schweigert, Katja Dreyer, Gritt Hofmann, Katja Abel und Conny Schütz sowie
weiteren (wenn auch wenigen!) Nachwuchsturnerinnen. |
An erster Stelle sind
hier Daria Bijak und Janina Jeworutzki zu nennen, die beide ein beachtliches JEM-Ergebnis
turnten, steht dem Deutschen Turner-Bund mit Sicherheit eine ausreichende Anzahl an
Turnerinnen zur Verfügung, die bei optimaler Betreuung das physische und psychische
Anforderungsprofil für eine Olympiaqualifikation 2003 erfüllen könnten. |
Konzepte sind in ausreichendem
Maße und in entsprechender Qualität in Deutschland vorhanden, zur Umsetzung fehlt unter
anderem die notwendige Bereitschaft zur konsequenten, aber auch kollegialen
Zusammenarbeit aller am Prozess beteiligten Personen bzw. Institutionen im Interesse
einer leistungsbetonten Entwicklung des deutschen Frauenturnens.
Petra Theiss / OSP Frankfurt-Rhein-Main
Zu diesem Beitrag
liegt GYMmedia im GYMforum ein Beitrag
von T.Schweigert vor:
"Ergänzungen zur EM-Analyse
von P.Theiss"
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