Berliner Zeitung

18.09.2000

ANSTOSS

Der Zipfel Weltspitze


Von Barbara Klimke

Luftpistolenschützen, Fußballspieler und Bremser im Viererbob haben es leichter. Den Nachteil seiner Sportart hat der Kunstturner Andreas Wecker schon vor langer Zeit erkannt. Es sei nicht einfach, Jungen und Mädchen vom Geräteturnen zu überzeugen, sagte Wecker. Womit solle man die Kleinen ködern? Etwa mit folgender Verlockung: "Hast du Lust, zwölf Jahre lang täglich mehrere Stunden zu trainieren, um es vielleicht, als Höhepunkt der Karriere, in die Nationalmannschaft zu schaffen?"

Kunstturnen, das ist wenig Kunst und viel harte körperliche Arbeit. Aber selbst jene, die sich hier zu Lande am besten quälen können, haben im olympischen Wettkampf nur noch den Hauch einer Chance. Der deutsche Cheftrainer Rainer Hanschke suchte nach dem zehnten Platz im Mannschafts-Wettbewerb nach einer Erklärung und fand sie in einer Metapher: "Bisher haben wird den Zipfel zur Weltspitze gehalten, hier haben wir ihn loslassen müssen." Es wird schwer werden, ihn wieder zu ergreifen.

Vor vier Jahren ist Wecker Olympiasieger geworden. Um zu ermessen, wie viele Salti zusätzlich in Sydney zu drehen sind, genügt ein Blick in die Wertungsvorschrift. Der Kurs für Weckers Gold-Kür am Reck, damals mit 9,85 Punkten bedacht, war wenig später auf knapp über neun Punkte gefallen. Auch für die Besten bedeutet dies, immer spektakulärere Nummern einzustudieren.

Der Glanz des Goldes von 1996 hat vieles überstahlt. Keiner der Jüngeren ist mit einem ähnlichen Übermaß an Talent geadelt. Und wenn die Mannschaft mitunter für Furore sorgte, dann auch deshalb, weil sie sich auf die Unterstützung zweier weiterer Olympiasieger verlassen konnte, auf Waleri Belenki und Sergej Charkow, die mit Freude in der deutschen Riege aufgenommen wurden. In Sydney mussten Charkow, Belenki und die ebenfalls verletzten Auswahlturner Sven Kwiatkowski und Daniel Farago ersetzt werden. Das Team hat erreicht, was möglich war. Gesehen hat man die harte Arbeit. Die Weltspitze zeigte ein bisschen mehr Kunst.

 
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