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.. was ist nun die
rechte Reihenfolge?
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Das
Reckfinale der Männer wird in die olympische Geschichte
eingehen – als einer der kuriosesten Wettkämpfe.
Die Eltern von Paul Hamm scheinen viel Wert auf gute
Erziehung zu legen, anders ist die stoische Ruhe des jungen
Mannes nicht zu erklären. Der amerikanische Turner sitzt
unbeweglich da. Von hinten flüstert ihm unentwegt eine
Übersetzerin ins Ohr, von vorne muss er sich fragen lassen, ob
er seine Mehrkampf-Goldmedaille nicht zurückgeben will. Um
seinen Hals baumelt eine Silbermedaille. Doch die interessiert
kaum jemanden. "Ich bin zwar mitten in dieser Sache
gefangen, aber ich glaube, es hat nichts mit mir persönlich zu
tun", sagt er tapfer. Das Turnen ist mal wieder um eine
Absurdität reicher. Und der 21-Jährige ist sowohl Opfer als
auch Nutznießer. Doch der Reihe nach. |
Es war schon spät, kurz vor 23 Uhr, als die Teilnehmer des Reckfinales
am Montag die Olympiahalle betraten. Der Russe Alexej Nemow, stolzer
Besitzer von zwölf olympischen Medaillen, zeigte als Dritter eine
spektakuläre Übung, doch weil er bei der Landung einen Ausfallschritt
machte, erschien auf der Anzeigentafel nur eine 9,725 und Platz drei.
Kollektiver Ausraster
Das löste bei den Zuschauern einen kollektiven
Ausraster aus. Zehn Minuten lang pfiffen und buhten sie, angeheizt vom
russischen Trainer. Dann senkten sie den Daumen, wie früher, als es bei
solchen Spielen noch um Leben und Tod ging. Die Kampfrichter steckten in
ihren feinen Anzügen aufgeregt die Köpfe zusammen, bis der Kanadier
und der Malaysier der Meinung waren, dass Nemows Darbietung doch gar
nicht so schlecht war. Am Ende bekam der Russe 9,762 Punkte, seine
Platzierung änderte sich allerdings nicht. "Eine Nachbesserung
", glaubt Bundestrainer Andreas Hirsch, "hat es in der
Geschichte des Turnens noch nicht gegeben." Doch das war an diesem
Abend noch nicht alles.
Denn als nächster Turner stand Paul Hamm bereit, ausgerechnet jener
Athlet, der vor ein paar Tagen die Goldmedaille im Mehrkampf nur
gewonnen hatte, weil zwei Kampfrichter den Koreaner Yang Tae-young
falsch bewertet hatten. Die beiden Notengeber sind inzwischen zu
Zuschauern degradiert worden, und der Internationale Turn-Verband (FIG)
hat den Fehler zugegeben. Am Ergebnis änderte das nichts.
Hamm stand also da, doch das Publikum tobte weiter. Erst als Nemow auf
die Matte ging, um die Leute auf den Rängen zu besänftigen, konnte der
Wettbewerb weitergehen. Hamm turnte cool, frech und sicher und war
hinterher selbst überrascht, "dass ich unter solchen Umständen zu
so einer Leistung fähig war" - 9,812. Nach ihm überschlug sich
der Italiener Igor Cassino am Reck auch recht ansehnlich, und wer die
Stimmung in der Halle verfolgt hatte, wusste, dass er auf Platz eins
landen würde.
Paul Hamm nahm die Niederlage hin. "Ich bin stolz auf meine
Leistung", sagte er. Der Rest liegt in Gottes Hand, sagten seine
Augen. Eine Anklage war nicht zu hören. Nur sein Zwillingsbruder Morgan
Hamm sagte: "Ich glaube, das Publikum hat die Entscheidung
bewirkt."
Russen
protestieren
Es ist wohl einmalig, dass ein Olympiasieger von den
Zuschauern bestimmt wurde. "Die sind emotionaler als die
Deutschen", sagt Andreas Hirsch. Das sei auch eine "Chance
für die Sportart, aus der Sterilität herauszukommen - wenn es so
abgeht". Das sei ihm "lieber als die
Dreimal-in-die-Hände-Klatscher".
Das sehen nicht alle so. Die Russen haben ihren Protest gegen mehrere
Wertungen angekündigt, die Koreaner ihren bereits eingereicht. Die
Funktionäre hoffen offenbar, dass sich das Chaos von selbst löst.
Bruno Grandi, Präsident der FIG, sagte, "es wäre am besten, Paul
Hamm würde die Medaille ...", dann hielt er inne und streifte sich
eine imaginäre Medaille vom Hals. Dazu will er sich jetzt nicht mehr
äußern. Mehr kann er Hamm nicht in den Rücken fallen.
HAMM:
... wird er glücklich mit Gold?
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Schließlich
hat nicht der die Noten vergeben, sondern die Jury. Und genau in
diesem Bereich liegt das Problem, nicht erst seit Montag. Der
Kampf um die Glaubwürdigkeit der Sportart geht weiter. Grandi
will den Videobeweis zur Korrektur falscher Entscheidungen
einführen. Kritiker fürchten, dass dann alles aus den Fugen
gerät, noch mehr als jetzt schon.
"Ich fühle in meinem Herzen, dass ich der Olympiasieger
bin", sagt Hamm. Er plane zwar nicht, seine Medaille
freiwillig herzugeben. Aber "wenn sie es von mir verlangen,
werde ich es tun. Alles andere wäre doch unhöflich." Nicht
alle werden das verstehen. Aber seine Eltern werden sicher sehr
stolz auf ihn sein.
Source: Financial
Times; Bilder: MINKUSimages; Bildunterschriften: gymmedia |
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YEAR 2004"
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