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... wann stand schon mal 'was über Turnen in der Financial Times...?"    Aus der FTD vom 25.8.2004

Olympiasieger von Volkes Gnaden
Von Nina Klöckner, Athen

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.. was ist nun die rechte Reihenfolge?

Das Reckfinale der Männer wird in die olympische Geschichte eingehen – als einer der kuriosesten Wettkämpfe.

Die Eltern von Paul Hamm scheinen viel Wert auf gute Erziehung zu legen, anders ist die stoische Ruhe des jungen Mannes nicht zu erklären. Der amerikanische Turner sitzt unbeweglich da. Von hinten flüstert ihm unentwegt eine Übersetzerin ins Ohr, von vorne muss er sich fragen lassen, ob er seine Mehrkampf-Goldmedaille nicht zurückgeben will. Um seinen Hals baumelt eine Silbermedaille. Doch die interessiert kaum jemanden. "Ich bin zwar mitten in dieser Sache gefangen, aber ich glaube, es hat nichts mit mir persönlich zu tun", sagt er tapfer. Das Turnen ist mal wieder um eine Absurdität reicher. Und der 21-Jährige ist sowohl Opfer als auch Nutznießer. Doch der Reihe nach.


Es war schon spät, kurz vor 23 Uhr, als die Teilnehmer des Reckfinales am Montag die Olympiahalle betraten. Der Russe Alexej Nemow, stolzer Besitzer von zwölf olympischen Medaillen, zeigte als Dritter eine spektakuläre Übung, doch weil er bei der Landung einen Ausfallschritt machte, erschien auf der Anzeigentafel nur eine 9,725 und Platz drei.

Kollektiver Ausraster
Das löste bei den Zuschauern einen kollektiven Ausraster aus. Zehn Minuten lang pfiffen und buhten sie, angeheizt vom russischen Trainer. Dann senkten sie den Daumen, wie früher, als es bei solchen Spielen noch um Leben und Tod ging. Die Kampfrichter steckten in ihren feinen Anzügen aufgeregt die Köpfe zusammen, bis der Kanadier und der Malaysier der Meinung waren, dass Nemows Darbietung doch gar nicht so schlecht war. Am Ende bekam der Russe 9,762 Punkte, seine Platzierung änderte sich allerdings nicht. "Eine Nachbesserung ", glaubt Bundestrainer Andreas Hirsch, "hat es in der Geschichte des Turnens noch nicht gegeben." Doch das war an diesem Abend noch nicht alles.

Denn als nächster Turner stand Paul Hamm bereit, ausgerechnet jener Athlet, der vor ein paar Tagen die Goldmedaille im Mehrkampf nur gewonnen hatte, weil zwei Kampfrichter den Koreaner Yang Tae-young falsch bewertet hatten. Die beiden Notengeber sind inzwischen zu Zuschauern degradiert worden, und der Internationale Turn-Verband (FIG) hat den Fehler zugegeben. Am Ergebnis änderte das nichts.

Hamm stand also da, doch das Publikum tobte weiter. Erst als Nemow auf die Matte ging, um die Leute auf den Rängen zu besänftigen, konnte der Wettbewerb weitergehen. Hamm turnte cool, frech und sicher und war hinterher selbst überrascht, "dass ich unter solchen Umständen zu so einer Leistung fähig war" - 9,812. Nach ihm überschlug sich der Italiener Igor Cassino am Reck auch recht ansehnlich, und wer die Stimmung in der Halle verfolgt hatte, wusste, dass er auf Platz eins landen würde.

Paul Hamm nahm die Niederlage hin. "Ich bin stolz auf meine Leistung", sagte er. Der Rest liegt in Gottes Hand, sagten seine Augen. Eine Anklage war nicht zu hören. Nur sein Zwillingsbruder Morgan Hamm sagte: "Ich glaube, das Publikum hat die Entscheidung bewirkt."

Russen protestieren
Es ist wohl einmalig, dass ein Olympiasieger von den Zuschauern bestimmt wurde. "Die sind emotionaler als die Deutschen", sagt Andreas Hirsch. Das sei auch eine "Chance für die Sportart, aus der Sterilität herauszukommen - wenn es so abgeht". Das sei ihm "lieber als die Dreimal-in-die-Hände-Klatscher".

Das sehen nicht alle so. Die Russen haben ihren Protest gegen mehrere Wertungen angekündigt, die Koreaner ihren bereits eingereicht. Die Funktionäre hoffen offenbar, dass sich das Chaos von selbst löst. Bruno Grandi, Präsident der FIG, sagte, "es wäre am besten, Paul Hamm würde die Medaille ...", dann hielt er inne und streifte sich eine imaginäre Medaille vom Hals. Dazu will er sich jetzt nicht mehr äußern. Mehr kann er Hamm nicht in den Rücken fallen.


HAMM: ... wird er glücklich mit Gold?

Schließlich hat nicht der die Noten vergeben, sondern die Jury. Und genau in diesem Bereich liegt das Problem, nicht erst seit Montag. Der Kampf um die Glaubwürdigkeit der Sportart geht weiter. Grandi will den Videobeweis zur Korrektur falscher Entscheidungen einführen. Kritiker fürchten, dass dann alles aus den Fugen gerät, noch mehr als jetzt schon.

"Ich fühle in meinem Herzen, dass ich der Olympiasieger bin", sagt Hamm. Er plane zwar nicht, seine Medaille freiwillig herzugeben. Aber "wenn sie es von mir verlangen, werde ich es tun. Alles andere wäre doch unhöflich." Nicht alle werden das verstehen. Aber seine Eltern werden sicher sehr stolz auf ihn sein.

Source: Financial Times; Bilder: MINKUSimages; Bildunterschriften: gymmedia

 

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